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6 Juni 2017

Das Herz von Alberobello

Alberobello ist Weltkulturerbe und mir wird sofort klar, dass die Luft hier nach etwas schmeckt, was ich so lange unterdrückt hatte. Hinter mir liegen nervenaufreibende Tage im Büro; Tage, in denen man den Sinn für das Wahrhaftige verliert, und jetzt will ich endlich wieder fühlen, was das Leben ausmacht.

Mein Mann drängt zur Eile. Er ist ein guter Reisegefährte, aber oft packt ihn seine Besichtigungs- und Fotografierwut.  Er weiß nicht, dass wir Ruhe brauchen und dass man die Luft während des Sonnenuntergangs auch atmen kann. Und dass die Chiancarelle (die flachen Kalksteine der Trulli) ihr Aussehen ändern, wenn die Schatten wandern.

Er wägt die Route ab: Besichtigen wir zuerst das Quartiere monumentale mit den Trulli oder lieber das Casa Pezzolla?

Ich sehe ihn an, und dann bitte ich ihn ganz ruhig, einfach schon voranzugehen.

„Delia, wir müssen uns beeilen, bald ist es Zeit zum Abendessen.“

Ich flüstere ein „Ich bitte dich.“ Er stutzt, aber dann lächelt er: Ich könne ihm dann ja in Ruhe folgen, er werde mit der Chiesa di S. Antonio beginnen.

Und dafür liebe ich ihn. Auch wenn er meine Entscheidungen manchmal nicht versteht, vertraut er mir und lässt mich meiner Wege gehen.

Er eilt voran, ich aber wandele gemächlich und lasse mich anstecken von der märchenhaften Atmosphäre, die von den weißen Wänden der Trulli ausgeht. Ich bin in einem Ort aus uralten Zeiten. Ein Ort, den es wohl nur einmal gibt auf dieser Welt.

Die grauen Kuppeln, gekrönt von den Pinnacoli, wecken Ehrfurcht, ebenso wie die Motivi Propiziatori, geheimnisvolle Symbole, die auf Ahnengeschichten zurückgehen. Ich habe gelesen, dass die Trulli ohne Mörtel errichtet wurden, damit man sie schnell wieder auseinandernehmen kann. Ob das stimmt? Ich stütze meine Hand ganz leicht gegen eine Wand …

In den Hauptwegen gibt es unzählige Andenkenläden. Auch das ist Alberobello, das begreife ich sofort.

Ich bin fasziniert von der Enge und der warmen Luft im Innern. Dann hebe den Kopf und betrachte den Schlussstein: Weiß und konisch, so als wollte er auch meine Gedanken zusammenführen.

Mein Blick wird gefangen von den Paprikaschoten über dem Eingang, von den Simssteinen, die das Regenwasser auffangen. Und von den versteckten Gassen, die mit ihren Treppen einen Duft von Jahrhunderten verströmen. Ich bin unendlich weit weg von dem Leben, das ich noch vor ein paar Tagen führte.

Ich setze mich auf eine Bank, und eine Frau fragt mich, ob mir ihr Ort gefalle? Er sei wunderbar, antworte ich ihr, und sofort lädt sie mich ein, ihr Haus zu besichtigen.

„So sind wir nun mal. Wer nicht von Herzen freundlich ist, sollte auch keine Touristen erwarten.“

– Ihre liebe Art lässt mich meine Scheu schnell vergessen.

Drinnen steigt mir der Küchenduft in die Nase – gemischt mit einer leichten Schimmelnote. Der kleine Raum ist voll mit gestickten Tischtüchern, die ich sorgfältig betrachte.

„Filé und Makramee, die Technik habe ich von meiner Großmutter gelernt. Die Frauen hier machen das schon immer.“ Während sie erklärt, betreten wir den nächsten Raum.

Fasziniert schaue ich aus dem Fenster. Über den Baumwipfeln sehe ich ein Dutzend Kegel und Pinnacoli. Die Schatten betonen ihre Formen und zeigen die Zeit an. Ich bin verzaubert.

„Möchten Sie, Signora?“

– Die märchenhafte Umgebung lädt mich ein, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Und so probiere ich ein Gläschen Rosolio al Limone, einem selbstgemachten Likör mit Rosenblättern und Zitronengeschmack.

Mit einer ganzen Flasche davon verlasse ich ihr Haus. Sie hat sie mir geschickt verkauft, aber mit extremer Freundlichkeit. Ich schaue sie noch einmal an: Eine wunderbare Frau, fest verbunden mit ihrer Heimat.

Ich erreiche das Belvedere um das Schauspiel zu bewundern, welches das Tal von Itria bietet. Und dann treffe ich meinen Mann, ganz in Gedanken versunken.  Ich umarme ihn und schweigend betrachten wir das Panorama.

Dann eröffne ihm, dass ich gerne in einem Trullo übernachten würde. Er ist sofort einverstanden, denn er hat einen Bauern getroffen, der ihm die Konstruktion erklärt hat.

So sind wir auf verschiedenen Wegen zum gleichen Schluss gekommen: Ein Abend ist nicht genug, aber nach einer Nacht im Trullo haben wir noch einen ganzen Tag, um den Ort anzusehen.

Wenn du dich ganz darauf einlässt, kannst du das Herz von Alberobello spüren.

 

Einen besonderen Dank an Uwe, Klara unt Anja Knipper für die Übersetzung.

 

Kategorie: Ziele und Routen